Vor ungefähr 25 Jahren haben sich meine Eltern des Öfteren verzweifelt gefragt: “Mein Gott, was wird bloß aus diesem Kind? Was machen wir bloß falsch, dass dieses Kind uns in allem widerspricht und uns dauernd vor der tamilischen Verwandtschaft blamiert?”
Ja, ich gestehe, ich war wirklich kein einfaches Kind. Meinen Eltern dauernd zu widersprechen und alles in Frage zu stellen, was mir nicht richtig erschien, war über die Jahre fast so etwas wie ein Hobby für mich geworden. Ich habe es einfach nicht akzeptieren können, dass ich als tamilisches Mädchen gewisse Dinge nicht tun durfte, nur weil ich eine Frau war, während alle meine deutschen Freundinnen nicht von solchen Einschränkungen im Leben betroffen waren.
Das, wovon fast alle Tamilinnen sicherlich ein Lied singen können: Keine kurzen Röcke tragen (ein No-Go auf tamilischen Familienfeiern), nicht bis spät in die Nacht wegbleiben und gibt es überhaupt ein tamilisches Wort für festen Freund oder feste Freundin? Alkohol – um Gottes Willen!
Mein Starrsinn und mein Freiheitsdrang wurden noch weiter durch das Lesen (von Biografien) über willensstarke Frauen bestärkt: Die Bücher von Waris Dirie (Wüstenblume; Nomadentochter) und sämtliche Jugendbücher von Federica de Cesco, in denen mutige Mädchen und Frauen die Hauptfiguren sind. Wenn Frauen unter wirklich widrigen Verhältnissen, wie in stark patriarchalischen Ländern, es geschafft haben ihren Weg zu gehen, warum sollte ich das in einem demokratischen Staat nicht schaffen können? Mit diesem Wissen kämpfte ich während meiner Jugend um meine ‘Freiheiten’. Schritt für Schritt.
Was könnte bloß die heilige tamilische Verwandtschaft denken, wenn ich an einem Sektglas schnuppere?
Natürlich waren meine Eltern alles andere als begeistert. Vorwerfen kann ich ihnen rückblickend aber nichts. Sie kannten es nicht anders und versuchten an mich nur das weiterzugeben, was ihnen von ihren Eltern beigebracht worden war. Die westliche Kultur erschreckte sie und sie hatten Angst, dass ich fehlgeleitet werden würde. Was könnte bloß die heilige tamilische Verwandtschaft denken, wenn ich an einem Sektglas schnuppere? Meine Antwort: Was kümmert es mich, was die denken. Das ist doch mein Leben. So einfach, wie die Antwort nun klingt, war es allerdings nicht, mich bei meinen Eltern durchzusetzen. Aber unmöglich war es auch nicht.
Letztendlich war es mein eigener starker Wille, der mich bis heute meinen Weg gehen ließ. Ich habe meine eigenen Entscheidungen getroffen, mit dem Wissen, dass es auch Fehlentscheidungen sein könnten, was gleichzeitig bedeutet, dass ich allein die Konsequenzen zu tragen habe. Und ja, ich habe viele Entscheidungen getroffen, die ich später bereut habe, aus denen ich aber gelernt habe. Lieber so, als anders.
Waren die letzten zehn Jahre, seitdem ich von zu Hause ausgezogen bin, einfach?
Nein. Ganz bestimmt nicht. Ganz im Gegenteil.
Ich habe, wann immer die Situation es verlangt hat, gekämpft und mich nicht unterkriegen lassen. Ich habe immer, wenn es nicht voran ging, nach Lösungen gesucht – und diese gefunden. Das bedeutete für mich zeitweise aber auch ein bis zwei Jobs neben dem Studium zu haben, öfters mal mit bis zu vier Stunden Schlaf auszukommen, Klausuren zu wiederholen, bis sie gut bestanden waren. Dann galt es noch die Regelstudienzeit einzuhalten, um mit dem BAföG hinzukommen. Schließlich ist nicht jeder überdurchschnittlich begabt und in der Lage bei Zeitmangel ein Studium mit guten Noten abzuschließen. Ich zumindest war nicht solch ein Wunderkind.
Meine Promotion im Anschluss an mein Studium war die härteste Zeit meines Lebens. Ich entschied mich für eine neue Stadt und eine andere Universität. Meine Eltern rieten mir davon ab. Ich tat es trotzdem. Meine Erfahrung: Es bedeutete trotz des interessanten Forschungsprojekts und der großartigen neuen Freundschaften leider auch viel Verzweiflung, Hilflosigkeit, Tränen, harte Entscheidungen und Verzicht. Hätte ich auf meine Eltern hören sollen? Nein, denn diese Erfahrungen waren für meine persönliche Weiterentwicklung als Mensch wichtig.
Einzig und allein die Kraft und der Wille niemals aufzugeben haben mich in den letzten zehn Jahren vorangetrieben. Ich weiß, was es bedeutet sich selbst etwas aufzubauen und nebenbei noch Kraft, Zeit und Geld aufzubringen, um andere Menschen zu unterstützen.
War es das wert?
War es das wert? Ja, definitiv. Heute, mit 30 Jahren, kann ich sagen, dass ich mein Leben so lebe, wie ich es mir vorstelle. Das bedeutet, ich habe eine eigene Wohnung, fahre das Auto, das ich mir mit 25 Jahren von meinem eigenen Geld gekauft habe, zahle meinen Studienkredit ab, bin in der Lage meine eigenen Möbel aufzubauen und mich mit widrigen Mietangelegenheiten, Autopannen und mit den alltäglichen Dingen des Lebens herumzuschlagen. Und ja, auch ohne Mann :). Ich kann nur jeden und jede dazu ermutigen, seinen oder ihren Weg zu gehen und eure Eltern zu bitten das Folgende zu sagen, falls mal wieder die ‘schockierte’ Frage fällt:
Warum ist eure Tochter mit 30 Jahren noch nicht verheiratet? (Diese Frage ist zwar nicht gerechtfertigt, aber ich fürchte, noch sind wir nicht so weit, dass sie nicht gestellt werden wird.)
“I am proud of my daughter and her accomplishments. Her dreams and ambitions complete her. It’s okay if she is married. It is also okay if she is not. Let her choose the life she wants. Let her live the way she wants. Not the way I, You or the society wants.” (Quelle: Being Woman)
Deshalb ist es meine verdammte Pflicht …
P.S. Obwohl der Weg für mich geebnet ist, habe ich mich vor einem Jahr für einen Richtungswechsel entschieden. Das heißt: Volles Risiko. Kann es schief gehen? Klar. Glaubt sonst irgendjemand, dass ich es schaffen werde? Nein. Hält es mich deshalb davon ab? Niemals.
In allem, was ich mache, verliere ich aber nicht das Wesentliche aus den Augen, das mir der Engel meines Lebens, meine Mutter, immer gesagt hat:
Ich, das Kind von Kriegsflüchtlingen, habe die einmalige Chance bekommen in einem der reichsten und sichersten Länder der Welt geboren und aufgewachsen zu sein. Deshalb ist es meine verdammte Pflicht, Menschen, die keine solche Chance im Leben bekommen haben und in Not sind, zu helfen – und genau daran arbeite ich jetzt und genau darin sehe ich auch den Sinn meines Lebens 🙂
// Anmerkung: Das Bild wurde exklusiv für diesen Artikel von der talentierten Künstlerin Anna Miske (Facebook: Studio Annyanka) designed.